Die Bedeutung der vorschulischen Entwicklung

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Die Bedeutung der vorschulischen Entwicklung


Das nachfolgende ist dem Artikel Lesen, Schreiben, Rechnen – schon im Kindergarten?

von Prof. Dr. Rudolf Kretschmann entnommen.

Erschienen in: Wehrmann, Ilse (2003) Zukunft der Kindergärten, Kindergärten der Zukunft“, Weinheim, Beltz - Manuskriptfassung

Verwendung nach freundlicher Genehmigung des Autors (Hier wird nur ein Teil des Artikels verwendet)!

Die Bedeutung der vorschulischen Entwicklung für den späteren Schulerfolg

Viele Jahre und Jahrzehnte lang konzentrierten sich, wenn es um die Frage ging, wie Bildungsstandards angehoben oder sozialisationsbedingte Nachteile ausgeglichen werden können, die bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Bemühungen zum überwiegenden Teil auf die Schule. In jüngster Zeit jedoch mehren sich die Erkenntnisse, wonach für die schulische Lernentwicklung nicht weniger wichtiger ist, was vor der Schule geschieht, als das, was in der Schule an pädagogischen Angeboten erfolgt:

In der European Child Care and Education Study (Krumm u.a. 1999) wurde für drei europäische Länder (Deutschland, Österreich und Spanien) die Entwicklung von Kindern vom vierten bis zum achten Lebensjahr untersucht. Sie ergab u.a., wie sich Eigenschaften der Kinder sowie die Umfeldbedingungen im Alter von vier Jahren auf die Schulleistungen im achten Lebensjahr auswirken. Darüber hinaus wurden die Qualität des Unterrichts und die häuslichen Lebensbedingungen der Kinder im achten Lebensjahr untersucht. Etwa die Hälfte der Leistungsunterschiede am Ende der zweiten Klasse (in Deutschland und Österreich) bzw. der dritten Klasse (in Spanien) konnten durch die Untersuchungsvariablen aufgeklärt und 75 Prozent der aufgeklärten Leistungsunterschiede durch die Erhebungen im vierten Lebensjahr vorhergesagt werden. Lediglich 25 Prozent der Varianz waren auf Indikatoren zur Qualität der schulischen Angebote bzw. der häusliche Lebensbedingungen im Alter von acht Jahren zurückzuführen. Für das Vorschulalter wie für das Schulalter gilt, dass die häuslichen Lebensbedingungen etwa doppelt so großen Einfluss auf die kindliche Entwicklung haben wie die Qualität der institutionellen Angebote, der schulischen oder davor der des Kindergartens.

Den Einfluss der vorschulischen Entwicklung belegt auch die von F. E. Weinert initiierte und von Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München durchgeführte Logik- und Scholastik-Studie (Helmke/Weinert 1997). In diesem Untersuchungsvorhaben wurde die Entwicklung von bis zu 220 Kindern vom Ende der Kindergartenzeit bis zur fünften Klasse verfolgt. Wie sich in der Untersuchung zeigte, bleiben die Leistungsunterschiede der Lernenden über alle Schuljahre nahezu konstant:

· Bei einem Teil der ursprünglichen Spitzenschüler sinken die Leistungen auf ein niedrigeres Niveau, welches jedoch immer noch über dem Durchschnitt liegt.

· Bei einem Teil der ursprünglich durchschnittlichen Lernenden steigen die Leistungen auf ein leicht überdurchschnittliches Niveau an.

· Alle Schülerinnen und Schüler aber, welche die Grundschulzeit mit niedrigen Leistungen beginnen, behalten diese relative Position bis zum Ende der Grundschulzeit bei. Ein Aufholen der Schwächeren findet nicht statt (vgl. Helmke 1997).

Noch ernüchternder, was die kompensatorische Wirkung schulischer Angebote betrifft, sind Befunde von Peez (1987) bzw. Gamsjäger und Sauer (1997). Diesen Untersuchungen zufolge werden „schlechte Schüler“ während der Schulzeit sogar „noch schlechter“, was nicht bedeutet, dass sie intellektuell regredieren. Auch diese Schüler lernen im bescheidenen Umfang dazu; aber die Rückstände gegenüber ihren begünstigteren Mitschülern werden immer größer und die Schere der Leistungsunterschiede öffnet sich zunehmend mehr.

Wie die PISA-Studie zeigt, sind die Unterschiede zwischen den leistungsstärksten und den leistungsschwächsten Lernenden im deutschen Bildungswesen besonders groß. In anderen Ländern gelingt es offenbar besser, Lernende mit ungünstigen Voraussetzungen an die Leistungsmitte heranzuführen. Es stellt sich daher die Frage, was geschehen kann, um mehr Kindern zu einem hinreichenden Lernerfolg zu verhelfen und, angesichts der unübersehbar großen Bedeutung der vorschulischen Entwicklung, was schon im Vorschulalter geschehen kann und muss, um Kindern zu günstigeren Startbedingungen in der Schule zu verhelfen. Dazu ist es zunächst vonnöten zu erfahren, welche Bedingungen zu einem gelungenen Start in der Schule führen.

Vorschulische Bedingungen späteren Schulerfolges

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Das bedeutet: Wer im Vorschulalter schon bereichsspezifisches Vorwissen zum Lesen, Schreiben und Rechnen anhäuft, verschafft sich eine günstige Ausgangsposition, um sich in der Schule weiteres Wissen anzueignen, d.h. beim Lesen, Schreiben und Rechnen erfolgreich zu sein. Kinder, die ohne solches Vorwissen zur Schule kommen, bleiben – im statistischen Durchschnitt gesehen – während ihrer gesamten Grundschulzeit die Schlusslichter und wahrscheinlich noch weit über diese Zeit hinaus!

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Was im Kindergarten (nicht) geschieht

In der Elementarerziehung der vergangenen Jahre wurde dem sozialen Lernen ein absoluter Vorrang eingeräumt. Dazu stellvertretend für andere zwei Stimmen:

1. „Es besteht ein Primat sozialen Lernens. Sachbezogenes Lernen, der Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten wird sozialem Lernen untergeordnet und nach Möglichkeit auf soziale Zusammenhänge bezogen“ (Zimmer 1986, S. 22).

2. Noch deutlicher stellt Laewen in einem Vortrag „Zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen“ die Identitätsbildung der Kinder in den Vordergrund. Diese solle sich in einem Prozess „wechselseitiger Anerkennung“ vollziehen und in engen „sozialen Bindungen“ und er fügt an anderer Stelle hinzu: „Es ist Ihnen vermutlich aufgefallen, dass bis zu diesem Zeitpunkt kaum von Inhalten die Rede war, die (...) dem Kind gegenüber thematisiert werden sollten. Ich zweifle auch, dass dies der Gegenstand unserer Arbeit sein kann (...)“ (Laewen 1988, S. 6).

Solche Inhaltsabstinenz wird neuerdings infrage gestellt und v.a. von Elschenbroich (2001) aufs Heftigste kritisiert. Vehement plädiert sie für eine stärkere Verortung des Weltwissens in der Vorschulpädagogik und illustriert ihre Forderung mit Beispielen:

„In einem (...) Kanon des Weltwissens von Siebenjährigen wird die Nachtwanderung enthalten sein, bei der jedes Kind einige Sternbilder kennen gelernt hat. Die Blindenschrift, mit der jedes Kind in Berührung gekommen sein sollte. Jedes Kind sollte während der ersten sieben Jahre die Chance gehabt haben, ein Musikinstrument zu bauen und die Stille als einen Teil von Musik zu erleben (...)“ usw.

Diese Forderungen klingen z.T. exotisch und müssten im Einzelnen diskutiert werden. Aber sie zeigen eine Richtung auf, die bei allem berechtigten Interesse am sozialen Lernen vielleicht zu Unrecht in den Hintergrund getreten ist. Tatsächlich zeigt ein Vergleich der OECD, dass in anderen Ländern durchaus andere Gewichtungen bestehen (dazu Bairrao/Tietze 1998).


Schulvorbereitung Kognitive Entwicklung Sozial-emotive Entwicklung
Belgien häufig häufig häufig
Dänemark selten häufig sehr häufig
Frankreich sehr häufig sehr häufig selten
Deutschland selten selten sehr häufig
Griechenland sehr häufig sehr häufig sehr häufig

Tabelle 1: Schwerpunkte der Vorschulprogramme verschiedener europäischer Länder (nach Bairrao/Tietze 1993, zit. n. Hacker, 1998)